BREV TIL: Louis Hjelmslev FRA: Bierwisch Manfred (1961-05-14)

Dr. Manfred Bierwisch

Berlin Lichtenberg, den 14.Mai 1961 BiirgerhelmstraBe 22

Sehr verehrter Herr Professor, gestatten Sie mir bitte, micb Ihnen zunachst ganz kurz personlich vorzustellen. Icb arbeite zusammen mit vier Kollagen seit eini- gen Jahren in einer zu diesem Zweck gegrUndeten Arbeitsstelle der Deutschen Akademis der Wissenschaften an einer strukturellen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Unsere Tatigkeit war dabei bisher vorwiegend rezeptiv, da das Germanistikstudium - ich selbst håbe bei Professor Frings studiert - uns fUr diese Aufgaben ziemlich unvorbereitet gelassen hat. Natiirlich haben wir uns inzwischen auch ausfiihrlich mit der Glossematik beschaf- tigt, und so stiefi ich beim wiederholten Lesen von "Omkring Sprogteoriens Grundlæggelse" auf ein Problem, das ich Ihnen nun vortragen rabchte. Erlauben Sie mir zu diesem Zweck folgande Såtze zu formuliaren, von denen ich annehme, daB sie zumindest nicht im Widerspruch zu OSG stehen: 1) Die Sprache ist eine Form, das heiBt ihre Einheiten sind durch gegenseiti&e Relationen definiert, nicht durch Manifestation in einer bestimmten Substanz. 2) Die registrierten Einheiten der Sprache sind als Varianten von bestimmten Invarianten nur auf Grund der Kommutation zu klassifizieren. 3) Die Kommutation setzt das Vorhahdensein zweier Plane voraus. 4) Das Schachspiel (und bestimmte andere Kalkule) haben die Ei- genschaft, formal definiert zu sein, mit der Sprache gemainsam. 5) Das Schachspiel (und bestimmte andere Kalkule) haben nur einen Plan. 6) Im Schachspiel lassen sich Varianten und Invarianten, von de- nen jene Varianten sind, unterscheiden. Wenn die Satze 1) bis 5) wenigstens sinngemaB richtig sind und galten diirfen, dann ist 6) eine unzulåssige Behauptung. Dieser Widerspruch kbnnte eliminiert warden, wenn man 6) fallen låBt und feststellt, daB in monoplanen Strukturen Varianz und Invarianz im Sinne der Sprache nicht existieren. Die EinbuBe, die

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die Theorie dann erlitte, erscheint mir betråchtlich. In zahlrei- chen Systemen mit formaler, aber jhomoplaner Struktur, etwa den verschiedenen musikalischen Systemen, die der Sprackstruktur in mancher Hinsicht sogar naher stehen als das Schachspiel, ist ohne Varianz und Invarianz nicht auszukommen. Ein zweiter Ausweg aus dem Widerspruch ergabe sich, wenn man den Satz 2) als nur fur biplane Strukturen gul tig ansieht. Das ver- langt jedoch eine besondere Invarianzdefinition fiir monoplane Strukturen, und es arhebt sich dann die Erage, ob a) beide Inva- rianz-definitionen aus einer gemeinsamen afcleitbar sind, die so- wohl fUr homoplane wie fiir biplane Strukturen gilt, oder ob b) beide unabhangig voneinander sind, indem sie grundsatzlich ver- schiedene Indefinable verwenden. In jedem Palle aber bleibt weiter zu erwågen, falls iiberhaupt aine besondere monoplane Invarianz- definiton gegeben warden kann, ob dann nicht der Ausdruck3plan einer natUrlichen Spi'ache angesehen warden kann als eine monoplane Struktur, sadaB deren Invarianten auch ohne Benutzung der dis- tinktiven Punktion, das heiBt der ICommutation, aufgestellt wer- den konnten, Natiirlich handelt as sich nicht darum, ob dieses Verfahren einfacher sein kbnnte, sondern lediglich darum, ob as logisch moglich ist, was OSG ja bestreitet. Ich brauche nicht zu sagen, daB das unter anderem auf die von Linguisten wie Harris, Pike, Chomsky und anderen mit verschiede- nan Argumanten gefuhrte Diskussion hinauslauft, ob die Ermittlung von Invarianten des Ausdrucks- oder Phonemplans ohne Zuhilfenahme von "meaning" und "grammatical prerequisite" moglich ist odor nlch Mir scheint nun, wenn man die zwar am Rande liegendon, aber doch zum Ganzen der Theorie gehorenden ABgumente benutzt, von denen ich ausging, daB dann auch aus der Glossematik noch eine andere Antwort auf diese Frage abzuleiten ist als die Unabdingbarkeit der Kommutation, Ich mochte iiber dieses Problem einen kleinen Aufsatz schreiben, jedoch nicht ohne Sie, sehr verehrter Herr Professor, zuvor urn Ihre Meinung gabeten zu haben. Sollten Sie die Prage fUr einer Antwort wert halten, ware ich Ihnen auBerordentlich dankbar. Mit der vorziiglichsten Hochachtung bin ich Ihr sehr ergebener